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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 15.03.2004:

Die Kunst der Auswege aus der "Kultur" der Gewalt

Über die schwierige Suche nach Wegen aus der Gewalt mit dem Projekt "künstler für schüler"
Das Bild zum Artikel
Bildrechte: "künstler für schüler"

Die Künstlerin und Malerin Jutta Bressem kennt sich aus mit einem Leben in der Ambivalenz: Fast täglich erlebt sie die dunklen Mächte, die die Strukturkrise der ländlichen Regionen in Deutschland begleiten: Alkoholismus, Hass auf Ausländer, wo es kaum welche gibt, Apathie im täglichen Nichts der Arbeitslosigkeit. Rechtsextreme Gruppen auch aus anderen Bundesländern schwärmen aus über Mecklenburg-Vorpommern und machen gegen die Ausländer mobil. Gewalterfahrungen - sei es als Täter, sei es als Opfer - sind alltäglich.

Mit 30 Prozent hat der Landkreis Ücker-Randow in Mecklenburg-Vorpommern die höchste Arbeitslosenquote bundesweit und zudem eine Spitzenquote an Alkoholikern. Das Leben auf dem Land ist äußerlich idyllisch, doch der Alltag in den Dörfern oder in der Kleinstadt Pasewalk steckt voller Perspektivlosigkeit und Frustrationen. "Hier herrscht eine grundsätzliche Unzufriedenheit", befindet Bressem. Auch die Kids auf dem Land haben nicht viel vor mit ihrem Leben: "Am Wochenende bewegen sie sich kaum, schauen Fernsehen oder reagieren sich mit gewaltverherrlichenden Computerspielen ab", fügt die Malerin hinzu.

In vielen Welten leben
Aufgewachsen in Frankfurt am Main, lebt Jutta Bressem nun in Mewegen, einige Kilometer von der Kleinstadt Pasewalk entfernt. Bressem betreut vom 29. März bis zum 2. April ein Projekt im Rahmen von "künstler für schüler" zum Thema "bildnerische Gestaltung von Totems" an der Grundschule Pasewalk. Ihre 15-köpfige Schülergruppe wird Bretter zu Totems umwandeln. Die einheimischen Kinder bemalen zusammen mit Schülern aus einem Asylbewerberheim die 20 - 50 cm breiten und 2,50 hohen Bretter: "Grobes Material bekommt einfache Strukturen", sagt die Künstlerin. Die Kinder lernen nicht nur die Wirkung von Farbtönen abzuschätzen und Motive auszuwählen, sondern sie sollen auch in die Lage versetzt werden, sich geistig mit anderen Kulturen zu beschäftigen. "Wenn ich einfallsreich ein Objekt gestalten kann, lerne ich auch, Probleme kreativ zu lösen", lautet das Leitmotiv von Bressem.
    
Keine Ohren mehr für Appelle?
Optimismus hinsichtlich der Wirkung von Kunstobjekten im Kampf gegen die Gewalt vermittelt auch das Plakat des Künstlerbundes und des Kultusministeriums von Mecklenburg-Vorpommern, das aus dem Projekt "künstler für schüler 2002" hervorgegangen ist. Es ist ein Appell gegen die moderne Geißel der unspezifischen mäandernden Gewalt.

Der Totempfahl, der über zwei Meter in die Höhe ragt, besteht unten aus einem bedrohlichen Teufel und oben aus einem eigentümlich geformten Kopf mit aufgerissenem Mund und Augen, die flehend in den Himmel blicken. Aus seinem Kopf reckt sich ein Arm hervor, hilfesuchend. Neben dem Totem steht ein lachender Junge, der sich mit einem Pinsel in der Hand dem Kopf entgegen streckt. Die Botschaft: Unten das Böse, der personifizierte Dämon, gegen das sich oben das Gute - mit einem lauten Schrei - auflehnt.

Machtlos gegen Gewalt?
"Ich sehe die Verzweiflung an den Schulen, doch die Gesellschaft muss ein probates Medium als Alternative zum gewaltsamen Handeln bestimmter Gruppen erst noch finden", sagt Peter Fuchs, Professor für Allgemeine Soziologie und Soziologie der Behinderung an der Fachhochschule Neubrandenburg. Fuchs war Schüler des renommierten Systemtheoretikers und Soziologen Niklas Luhmann. In der Diskussion über die Prävention von Gewalt an Schulen werden bestimmte Medien immer wieder ins Spiel gebracht, zum Beispiel die Kunst. Appelle gegen Gewalt, sagt Peter Fuchs, werden das Problem aber nicht zum Schweigen bringen.

Auf der Suche nach einem Medium, das Alternativen zur Gewalt aufzeigt, setzt das Land Mecklenburg-Vorpommern weiterhin auf die Kunst: "Die Künstler gehen in die Schulen und sprechen die Schulkinder mit bestimmten Themen wie Malerei, Glasgestaltung, Theater an", sagt Heike Neitzert, Pressesprecherin des Kultusministeriums in Mecklenburg-Vorpommern. Das Projekt "künstler für schüler" zielt auf Gewaltprävention, also auf Vorbeugung.

Gewaltsame Übergriffe an den Schulen sind jederzeit und praktisch überall möglich. Der letzte spektakuläre Fall von Gewalt und Misshandlung an Schulen liegt mittlerweile einige Wochen zurück und betraf einen 17-jährigen Schüler in einer Berufschule in Hildesheim, der von seiner Klasse über mehrere Wochen hinweg gequält, gedemütigt und dabei gefilmt worden ist.  

Die "Mentalitäten" der Massenmedien
"Die Schulen in Mecklenburg-Vorpommern sind keine Inseln der Glückseligkeit", weiß Heike Neitzert. Deshalb gibt es im Land rund 350 Maßnahmen zur Gewaltprävention an den unterschiedlichsten Schultypen. "Prävention lohnt sich", versichert die Pressesprecherin. Eine Studie der Universität Greifswald habe bewiesen, dass die Gewaltbereitschaft an den Schulen infolge dieser Maßnahmen in Mecklenburg-Vorpommern deutlich abgenommen habe.

Diesen Befund bestätigen die kompensatorischen Ansätze in der Kunstpädagogik. Aggressionen, so Gabriele Lieber, wissenschaftliche Mitarbeiterin des BLK-Programms Kulturelle Bildung im Medienzeitalter können durch künstlerische oder motorische Beschäftigung abgebaut werden. Man kann Jugendliche, die wegen Gewaltdelikten mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind damit "wunderbar ansprechen". Lieber ergänzt: "Schüler haben häufig Probleme, sich verbal auszudrücken. Kunst oder Musik ermöglichen den nonverbalen Ausdruck". Sie sind ein Ventil insbesondere für Jugendliche, deren Startchancen und Teilhabemöglichkeiten an der Gesellschaft begrenzt sind und die durch blinden Medienkonsum sicher nicht verbessert werden. Die "Mentalitäten" der Massenmedien, so der Soziologe Fuchs, "tropfen auf die Jugendlichen ab".

Alles hängt vom richtigen Gebrauch ab: Medien können die Wahrnehmung und das Bewusstsein der Jugendlichen erweitern oder sie betäuben den Körper, stellen ihn gewissermaßen unter Hochspannung: "Wenn ich ein Totem bemale oder ein Bild gestalte, arbeite ich auch körperlich", meint Bressem. "Damit zeige ich andere Wege auf, mit Aggressionen fertig zu werden", so die Malerin.

Last Exit: "künstler für schüler"?
Die künstlerische Arbeit von Jutta Bressem, die ihr Atelier in einem nicht genutzten Schulraum hat, erfährt im Ort allgemeine Wertschätzung. Bressem ist eine geachtete Außenseiterin in Pasewalk, die allerdings nicht einfach zuschauen will, wie sich menschenverachtende Einstellungen oder die tägliche Gewalt an Schulen durchsetzen. Sie setzt auf die Chancen, die sich für Pasewalker Schüler durch das kennen lernen anderer Kulturen, u.a. durch Projekte wie "künstler für schüler", ergeben. Weil es für Künstler außerdem sehr schwierig ist, in Mecklenburg-Vorpommern zu überleben, ist sie doppelt froh darüber, dass es "künstler für schüler" gibt. Mit dem Projekt zur Gewaltprävention schlage das Land zwei Fliegen mit einer Klappe, sagt Bressem.

Außerschulische Projekte, die an den Unterricht angekoppelt sind, können - Jutta Bressem zufolge - Lern- und Gruppenprozesse freisetzen, die die erworbenen, fremdbestimmten Handlungsmuster hinterfragen oder ersetzen. Was Richtig oder Falsch ist bzw. Gut oder Böse ist in der heutigen Welt schwieriger zu definieren denn je. Deshalb sollte innerhalb der Gewaltprävention die Appellkultur, die das Gute in der Kultur verortet und das Böse in den populären Massenmedien überwunden werden: Denn die Kultur - so Fuchs - sei keineswegs frei vom Bösen.

Doch stellt sich die Frage, ob Projekte wie das staatlich geförderte "künstler für schüler" wirklich nachhaltig dem gewaltbereiten Handeln entgegenwirken. Interessant wäre auch die Frage nach den künstlerischen Botschaften, die so entstehen sowie nach deren gesellschaftlicher Relevanz.  

Kunst gehört zu den wenigen Medien, die es erlauben, Aggressionen oder auch Gewalterfahrungen mit gestalterischen Mitteln zum Ausdruck zu bringen. Kunst bringt den gewaltbereiten Körper und die verletzte Psyche von perspektivlosen Jugendlichen, die nichts mehr wünschen, als ihre Ohnmachtserfahrungen in Macht umzuwandeln, zum Sprechen. Ob die Gewaltbereitschaft dadurch grundsätzlich "entlernt" werden kann, mag man - mit Peter Fuchs - bezweifeln.

Die moderne Welt - mit der Schüler und Schülerinnen institutionell, lebensweltlich und als Warenkonsumenten in Kontakt treten, ist grundsätzlich ambivalent. Innerhalb ihrer widersprüchlichen Strukturen sollten alle denkbaren und bewährten Auswege aus der Kultur der Gewalt genutzt werden.

Autor(in): Peer Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 15.03.2004
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