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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 17.11.2005:

"Kinder sind Experten in diesem Denken"

Markus Cslovjecsek bringt Musik in den Matheunterricht
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Markus Cslovjecsek

Bildung PLUS: Warum macht Mathe Musik?

Cslovjecsek: Mathe macht in den Köpfen der Menschen schon immer Musik. Und zwar nicht nur auf der mathematisch komplexen Ebene, auf der zum Beispiel die Stimmungen von Instrumenten oder die Raumakustik berechnet werden. Klänge und Bewegungen erzeugen in jedem Menschen Vorstellungen. Nach Ansicht einer Gruppe von Mathematikern und Psychologen ist die Bewegung sogar der Ursprung der Mathematik. Wir wissen, dass auch Klänge als so genannte konzeptuelle Metaphern wirken. Genau deshalb sollte Mathe auch  in der Grundschule Musik machen dürfen. Damit dies gelingt, ist bei den Beteiligten ein offener Musikbegriff wichtig. Ein Konzept von Musik, in welchem neben dem Verständnis von Musik als Kunstform auch alltägliche Geräusche, Stille und Bewegung als musikalische Ausdrucksformen interessieren.

Kinder haben grundsätzlich einen offenen Musikbegriff. Alles kann für sie Musik sein und aus dem vorsprachlichen Lernen sind sie gewohnt, Klang und Bewegung als  konzeptuelle Metaphern zum Erschließen von Wissen und zum Aufbau von Fertigkeiten zu nutzen. Das bedeutet zum Beispiel, dass sie beim Gehen die Schritte mitzählen und das Konzept "Zahlenstrahl" aufbauen oder beim Spielen mit den Pfannen in der Küche Schritt für Schritt lernen, was erstens, zweitens und drittens bedeutet.

Bildung PLUS: Warum spielte Musik im Mathematikunterricht dann nie eine Rolle?

Cslovjecsek: Ich denke es liegt an der Tradition, wie wir Musik verstehen; daran zum Beispiel, dass für uns Musik vor allem ein ästhetisches Kunstwerk ist. Musik ist ja tatsächlich eine wunderbare Kunst und es ist auch besonders schön, wenn man zusammen mit Kindern oder Jugendlichen im Unterricht musizieren und kleine oder große Kunstwerke realisieren kann. Doch die Reduzierung der klingenden Welt auf den Kunstbegriff ist problematisch. Musikalische Tätigkeit ist auch ohne gleich Kunst zu sein spannend und musikalische Parameter vernetzen sich auf vielfältige Art mit anderen Disziplinen. In diesem Sinn ist Musik in der Schule überall anzutreffen und genau auf dieser Ebene will ich mit meiner Arbeit ansetzen.

Bildung PLUS: Wie verändert sich denn das Lernen durch Musik?

Cslovjecsek: In der Schweiz gab es vor einigen Jahren das Projekt "Erweiterter Musikunterricht". Damals hatten fünfzig Klassen in der Grundschule fünf Stunden Musikunterricht in der Woche auf Kosten der Hauptfächer. Wir beobachteten in solchen Klassen, dass die Musik die Grenzen des eigenen Faches schnell überschritten hatte. Die intensive Beschäftigung mit Musik führte nämlich dazu, dass die Kinder sogar im Mathematikunterricht plötzlich musikalische Ideen produzierten und diese auch äußerten.

Zum Beispiel machte ein Kind den Vorschlag, dass man anstatt Hunderter, Zehner und Einer auswendig zu lernen, einen Rhythmus klopfen könnte. Für einen Hunderter klopft man auf die Brust, bei Zehnern klatscht man in die Hände und bei Einern schnipst man mit den  Fingern. Selbst der Lehrer war damals überrascht, wie viel Spaß und Freude durch diese kreative Body-Percussion im Mathematikunterricht herrschten. Solche Impulse erscheinen auf den ersten Blick banal. Oft kommen neben den Lehrern auch Musikerinnen und Mathematiker ins Staunen, welche tiefgründigen und komplexen Fragen aus der eigenen Disziplin einem so begegnen können. Kinder sind Experten in dieser Art des Denkens und Lernens. Wir haben die Dinge dann oft einfach beobachtet, gesammelt und als Unterrichtsmaterialien aufbereitet.

Bildung PLUS: Wie sieht der Matheunterricht dann konkret aus?

Cslovjecsek: Da ist nicht einfach alles anders. Aber Musik liefert durch ihre Verknüpfung von Klang und Bewegung, durch die zentralen Gestaltungsformen Variation und Wiederholung, durch ihre motorische Kraft und ihre Flüchtigkeit viele zusätzliche Möglichkeiten der Verbindung mit Fragestellungen aus der Mathematik und dem Unterricht. Ein Zugang zum Beispiel ist das differenzierte Hören. Man lässt Münzen fallen und fragt dann "Wie viele waren das? Waren es alle dieselben? Wie viele unterschiedliche habt ihr gehört?". Dann müssen Werte zugeordnet und zusammenrechnet werden.

Aufgrund der unterschiedlichen Hörerfahrungen gibt es natürlich jeweils auch sehr unterschiedliche Ergebnisse. Es gibt viele Lösungen, mögliche und unmögliche, wahrscheinliche und weniger wahrscheinliche - und wir befinden uns in einer Lernsituation, in welcher viel gerechnet, genau hingehört und klar formuliert werden muss. Eine weitere Grundeigenschaft von Klang ist, dass er flüchtig ist, sich aber dennoch beliebig wiederholen und variieren lässt. Diese Flüchtigkeit lässt sich im Gegensatz zu Zahlen und Bildern, die immer präsent sind, im Unterricht sinnvoll einsetzen. Die Flüchtigkeit erzeugt das Verlangen nach Festhalten können. Der Klang und die Reihenfolge der fallenden Münzen lässt sich notieren. Wenn jedes Kind das in seiner Weise tun darf, erfahren wir Lehrerinnen und Lehrer viel über die unterschiedlichen Denkweisen und das Vorwissen der Kinder - und manchmal sind die Notationsvorschläge der Kinder absolut genial.

Bildung PLUS: Kann Musik auch in anderen Unterrichtsfächern eingesetzt werden?

Cslovjecsek: Natürlich ist Musik auch in anderen Unterrichtsfächern eigentlich immer da. Die Kinder bringen sie mit und sie sind auch bereit, Musik als Zugang für das schulische Lernen zu integrieren. Es liegt an uns Lehrerinnen und Lehrern, ob wir die Chancen packen. Um sie packen zu können, muss man sie aber zuerst sehen lernen. Durch unsere schulische Sozialisation haben wir gelernt, dass Bewegung in die Turnhalle und Musik ins Musikzimmer gehört. Die Schule hat uns blind gemacht für die Qualitäten von Klang und Bewegung als Zugänge zu Wissen. Wir alle müssen wieder lernen, dass nicht nur Sprache, Zahlen und Bilder als Lerntools beim Unterrichten dienen können. In Baden-Württemberg arbeite ich bei einem Projekt mit, bei dem es ums Fremdsprachenlernen geht. Kinder lernen Sprache über Klang und Bewegung.

Rhythmisch zu üben macht deutlich mehr Spaß als einfach Verben zu konjugieren. Spielerisch und ohne Sprachkenntnisse lernt jeder Mensch Syntax, Semantik und Pragmatik seiner Muttersprache. Diese spielerisch-musikalischen Zugänge sind im frühen Fremdsprachenlernen mindestens ebenso professionell zu entwickeln, wie es die Schulbücher und Computertrainingsprogramme sind. Gemeinsames Spiel mit Klang und Bedeutung, Form und Struktur fordert zudem die soziale und emotionale Auseinandersetzung.

Aus der Forschung um den frühkindlichen Spracherwerb weiß man um die zentrale Bedeutung dieser Faktoren. Es ist eine große Herausforderung in der Gruppe, vor der Gruppe oder gegen die Gruppe zu spielen, rückwärts und vorwärts sprechen und lesen, mit geschlossenen Augen in der Fremdsprache Gegenstände und Geräusche zuordnen oder im Sachunterricht  mit dem Tonband den Schulweg aufzuzeichnen und in einen Plan zu übertragen oder Achsenspiegelungen zu tanzen und zu zeichnen.

Bildung PLUS: Wie reagieren Lehrerinnen und Lehrer auf Ihre Unterrichtsmaterialien und Weiterbildungsangebote?

Cslovjecsek: In unseren drei Büchern "Mathe macht Musik" haben wir verschiedene Handlungsanweisungen für den Unterricht entwickelt und interessierten Lehrern zur Verfügung gestellt. Viele Lehrerinnen wünschen aber eine Weiterbildung zum Thema und so bin ich zur Zeit sehr viel in Schulhäusern unterwegs und arbeite mit ganzen Lehrerteams. Spannend ist, dass auch sehr kritische Lehrer, auch solche die mit Musik in der Schule eigentlich nicht viel anfangen können, begeistert reagieren und dankbar sind für die neuen Impulse. Die meisten Lehrerinnen und Lehrer sind total erstaunt, wie einfach das Ganze funktioniert. Das ist ja der Clou daran: Es ist einfach und doch so wirkungsvoll. Eine Studie mit Lehrerinnen und Lehrern welche sowohl Mathe als auch Musik gerne unterrichten machte deutlich, dass trotz der Liebe zu beiden Fächern diese einfachen Transfers nicht genutzt werden.

Bildung PLUS: Inwiefern schlägt sich diese Begeisterung dann auch in besseren Schulnoten nieder?

Cslovjecsek: Diese Frage wurde in den letzten Jahren intensiv untersucht und es wurde deutlich, dass Kinder und Schulklassen welche viel Musik machen in den kognitiven Bereichen nicht schlechtere Noten schreiben als andere. Ob diese Wirkung der Musik zuzuschreiben ist, ist richtigerweise umstritten. Was mich interessiert, ist  wie sich das Klima im Klassenzimmer verändert und welche Unterrichtsformen zum Tragen kommen. Ich will den Kindern die Zugänge zum Lernen zurückzugeben, mit denen sie sich vor der Einschulung so viele Kenntnisse und Fähigkeiten erworben haben.  Wenn Klang und Bewegung eine wichtige Rolle im Unterricht spielen, so hat dies einen enormen Einfluss auf die Kinder, die Lehrpersonen, das Lehrerteam, das Schulhaus, die Eltern, die Gemeinde und die ganze Gesellschaft. Bessere Noten sind einfach zu machen und da wird unter dem Deckmantel PISA kräftig geschummelt. Was ich will, ist eine bessere Schule!

Bildung PLUS: In den letzten Jahren ist auf dem Bildungssektor einiges in Bewegung gekommen. Hat sich das auf ihre Arbeit positiv ausgewirkt?

Cslovjecsek: Bewegung ist grundsätzlich gesund. Bewegung im Bildungssektor ermöglicht neue Entwicklungen und das Aufbrechen von Krusten. Instabilität hat aber auch Verunsicherung zur Folge. Verknüpft mit dem hohen Spardruck und dem Ruf nach hoher Effizienz, nach Output-Orientierung und der Konzentration auf das "must to have" ist die Gefahr groß, dass traditionelle "nice to have" Bereiche reduziert werden. Der ganze kulturelle Bereich steht in diesem Sinn unter einem großen Druck.

Meine Arbeit wurde zum Teil von Musiker-Kolleginnen und -Kollegen diesbezüglich als Gefahr angesehen. Sie meinten: "Wenn du Musik in allen Fächern machst, dann werden dir die Politiker dankbar sein und das Fach Musik abschaffen". Unterdessen zeigt sich aber deutlich, dass dort wo Lehrerinnen oder ganze Schulen Musik als ein Prinzip des Unterrichtens pflegen, die Akzeptanz des Instrumentalunterrichts und des Fachunterrichts gestiegen ist. Ich bin überzeugt, dass neben ICT-gestütztem Unterricht, individuellen Lernumgebungen und vergleichenden Leistungstests unser Angebot einen wichtigen Kontrapunkt bildet. Klang und Bewegung als Instrumente des Lernens zwingen zum Überdenken alter Vorstellungen vom Lernen. Schule wird durch den Einsatz von Computern nicht automatisch besser. Wichtig ist, dass Lehrerinnen und Lehrer begeistert sind von Ihrer Arbeit mit den jungen Mitarbeitenden (ihren Schülerinnen und Schülern) am Produkt Bildung. In diesem Sinn werden wir weiterhin versuchen, die Bewegung zu nutzen, um die Qualität des Lernortes Schule zu verbessern.


Markus Cslovjecsek, geb. 1958, Primarlehrerausbildung, Studium der Schulmusik, Kirchenmusik und Chorleitung an der Musikakademie Luzern, Schulmusikdiplome I und II, Lehrdiplome für Violoncello und Sologesang. Er unterrichtete während mehrerer Jahre an Primarschulen, an Musikschulen, an der Volksschul-Oberstufe, an Gymnasien, in der Lehrerausbildung und der Erwachsenenbildung. Markus Cslovjecsek ist Professor für Fach- und Bereichsdidaktik an der Pädagogischen Hochschule der FHA Nordwestschweiz, Referent und Workshopleiter im In- und Ausland. Er ist verheiratet und Vater von zwei schulpflichtigen Töchtern.

Autor(in): Udo Löffler
Kontakt zur Redaktion
Datum: 17.11.2005
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